Die Toten wachen wenn die Lebenden schlafen
„Der Tod ist die Frucht des Lebens, das Leben die Frucht des Todes“, heißt es einen Sprichwort der Dyula (Senegal). Wenn der Mensch eines Tages die Welt verlassen muß, dann eben, weil er gelebt, gegessen, getrunken, geschlafen, gearbeitet und sich ausgeruht, weil er seine Felder bestellt, getanzt, gefeiert und, vor allem, weil er Kinder gezeugt hat. In vielen Mythen vom Ursprung erscheint der Tod als Preis, den er zu zahlen gilt, wünscht man die Fülle des Lebens bis zur Neige zu kosten. Es gilt als die notwendige Vorausssetzung für die Regeneration von Mensch, Natur und kosmischer Energie. Ohne ihn herrschte ewiger Stillstand - Leben aber ist ein steter Fluß von Kräften und Formen, ist Bewegung wie Ruhe, Zirkulation und Aktivität. Unter diesem Aspekt betrachtet, rechtfertigt sich der Tod durch das Leben selbst.
Der Tod markiert zwar einen Einschnitt, ist letzlich aber nur Teil eines kontinuierlichen Prozesses: Die Verstorbenen setzen ihr Leben als Ahnen im jenseits fort. In ihrer Rolle gleichsam als „Oberälteste“ tragen sie fortan Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Nachkommen.
Daily's Bestattung
Der Aufwand bei Bestattungen und Trauerfeierlichkeiten hat immer auch zum Ziel, den Kontakt zu den Toten zu festigen. Bei den Ga an der Küste von Ghana gehört seit einiger Zeit die Beisetzung in ausgefallenen, aufwendig gestalteten „Phantasiesärgen“ dazu. Gewöhnliche, rechteckige Holzkisten hatten die Europäer schon früh in Ghana eingeführt, sie bildeten jedoch zunächst ein privileg der Höhergestellten. Die ausgefallenen Varianten kamen etwa Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts in Mode. Eine kleine Schar von Zimmerleuten aus Teshie, einen Ort vor den Toren Accras, profitiert seither von ihrer Herstellung. Ihr Zweck ist, die Individualität des Toten herauszustellen und Besonderheiten aus seinen Leben bildlich festzuhalten.
Ein Beispiel für die Kunstfertigkeit lieferten die Sargtischler anlässlich der Beisetzung von Ernst Tagoe, eines im Alter von 72 verstorbenen Fischers. Selber des Lesens und Schreibens unkundig, ließ sich Ernst zu seinen Lebzeiten täglich von seinem Sohn aus Ghanas führender Tageszeitung, dem „Daly Graphic“, vorlesen. Im Besitz der neusten Nachrichten, ging er von Haus zu Haus, um mit Freunden und Nachbarn das Gehörte zu diskutieren. Deshalb verlieh man ihm den Spitznamen „Daily“.
Der Sohn, der seinen Vater einen respektablen Platz unter den Ahnen sichern wollte, beauftragte während der Totenwache die Sargtischler in Teshie zu Ehren von „Daily“ einen Sarg zu Zimmern. Das gewünschte Modell sollte die Form einer gefalteten Zeitung haben.
Nachdem Daily in den für ihn gefertigten Sarg gezwungen wurde, stritten junge Männer um das Vorrecht, wer den Sarg anschließend tragen dürfe. Das gehört zum Ritual, gilt es als besondere Ehrung des Verstorbenen , der sich aus dem Jenseits heraus später für die Gefälligkeit revanchieren wird. Der Sarg war kaum verschlossen, als vier mit Gin gestärkte Männer Ihn auf ihre Köpfe luden. Doch anstatt würdevoll zu schreiten jagten sie im Laufschritt durch die Gassen. Taumelnd und schwitzend machten sie hier und dort halt, so dass Verwandte, Freunde und Nachbarn einen letzten Gruß entbieten konnten. Als schließlich weit und breit ein jeder vom Abschied „Dailys“ in Kenntnis gesetzt war, schlugen sie eine Reihe von Umwegen ein, um der Totenseele die Orientierung zu nehmen. Vom Rückweg abgeschnitten, muss sie ihren Weg ins Totenreich einschlagen und kann den Lebenden keinen Schaden zufügen. Auf den letzten zehn Meilen zum Friedhof wurde der Sarg immer wieder herum gewirbelt. Ruhe kehrte erst ein, als der Sarg langsam und bedächtig in das Grab gesenkt wurde.
Endgültig im Totenreich eingebürgert sein wird „Daily“ jedoch erst, nachdem weitere kleine Gedenkfeiern für ihn ausgerichtet wurden. Wie die Eingliederung eines Kindes in die menschliche Gesellschaft ist auch die Aufnahme in die Ahnengemeinschaft ein langwieriger Prozess.